- Homo erectus: Kennzeichen und Evolution
- Homo erectus: Kennzeichen und EvolutionDie frühen morphologischen Beschreibungen des Homo erectus, wie etwa Weidenreichs detaillierte Monographie über den Pekingmenschen, beruhen ausschließlich auf Material aus Ostasien, wo derartige Fossilien zuerst entdeckt wurden. Doch auch spätere Funde zeigen, obgleich über drei Kontinente verbreitet, die gleichen typischen Merkmale dieser Frühmenschenform und erweitern darüber hinaus unsere Kenntnis von deren Variation.Markanter SchädelZunächst fällt bei Homo erectus auf, dass er mit durchschnittlich 1000 cm3 ein größeres Gehirn besaß und damit dem modernen Menschen näher steht als sein Vorläufer, der frühe Homo. Doch auch in der Form des Schädels bestehen wesentliche Unterschiede zum frühen Homo. So ist der Hirnschädel ausgesprochen lang und niedrig, und von der Seite betrachtet fällt das scharf gewinkelte Profil des Hinterhaupts ins Auge. An der am meisten nach hinten vorspringenden Stelle dieser Winkelung verläuft zudem quer über das Hinterhauptbein eine wulstartige Verstärkung des Knochens. Weitere Verstärkungen des ohnehin schon sehr dickwandigen Knochens finden sich häufig auch entlang der Mittellinie auf dem Schädeldach und können einen mehr oder weniger ausgeprägten stumpfen Wulst oder eine Kielung bilden. Weitere Kennzeichen des Hirnschädels sind seine relativ breite Schädelbasis und die entsprechend schräg nach oben verlaufenden Seitenwände. Von hinten gesehen ergibt sich so die für Homo erectus typische Zeltform des Schädels.Zwischen der flachen, zurückweichenden Stirn und den Augenhöhlen findet sich ein robuster, dachartig vorspringender Überaugenwulst, dessen Ausprägung neben vielen andern Faktoren vor allem von der Größe des Kauapparats und damit des Kaudrucks abhängt, der auf das Schädeldach übertragen wird. Hinter diesem knöchernen Wulst verläuft eine rinnenartige Vertiefung, ein Sulcus. Besonders in der Aufsicht ist zu erkennen, wie stark der Überaugenwulst zu den Seiten hin auslädt und wie schmal dagegen der über dem Wulst liegende Stirnbereich ist. Man bezeichnet dieses Merkmal, das auch bei der fortschrittlichen Anatomie von Homo habilis zu finden ist, als postorbitale Einschnürung.Die kräftigen Überaugenstrukturen korrespondieren mit dem robusten und verhältnismäßig breiten Gesicht des Homo erectus. Sein Kiefer ragt insgesamt noch recht deutlich unter dem Hirnschädel hervor, und am kräftigen Unterkiefer befindet sich in den allermeisten Fällen noch kein Kinnvorsprung. Eine wichtige Neuerung zeigt sich in der Nasenregion, denn zum ersten Mal in der Hominidenentwicklung steht die Nasenöffnung gegenüber den benachbarten Regionen des Oberkiefers hervor. Damit beginnt mit Homo erectus die Entwicklung einer typisch menschlichen äußeren Nase, bei der die Öffnungen nach unten und nicht mehr — wie bei den relativ flachnasigen Menschenaffen und früheren Hominiden — nach vorn weisen.Die beiden amerikanischen Anthropologen Robert Franciscus und Erik Trinkaus haben sich mit den möglichen Ursachen dieser Veränderung befasst und dabei bemerkenswerte Zusammenhänge festgestellt: Da die Temperatur in einer weiter außen gelegenen Nase niedriger ist als im Körperzentrum, bildet sich beim Ausatmen Feuchtigkeit in der Nase. Diese feuchtet die eingeatmete Luft an, sodass den Nasenschleimhäuten in heißem, trockenem Klima nur sehr wenig Feuchte verloren geht. Ein auf diese Weise verringerter Feuchtigkeitsverlust wäre vorteilhaft für Homo erectus gewesen, der sich in relativ trockenen Regionen Afrikas entwickelt hatte und in der Tageshitze seine Nahrung beschaffen musste.Auch die Zähne des Hominiden sind gegenüber der Morphologie seiner Vorläufer deutlich verändert. So weisen die Backenzähne insgesamt eine Tendenz zur Größenreduktion auf, wobei, wie später bei Homo sapiens, der Weisheitszahn im Allgemeinen kleiner ist als der zweite Molar. Dagegen sind die Schneidezähne relativ groß und besitzen häufig durch die Bildung seitlicher Schmelzleisten eine Schaufelform, die die Bissfläche dieser Zähne vergrößert und die Abnutzung verringert. Insgesamt deuten die Gestalt der Zähne sowie Aspekte der Schädelform, wie der Überaugenwulst oder der Hinterhauptwulst auf einen verstärkten Einsatz des Kiefers zum Beißen, Greifen oder Abreißen der Nahrung hin, während das Zermahlen mit den Backenzähnen offenbar an Bedeutung verlor. Das mag auf veränderte Ernährungsgewohnheiten, etwa einen zunehmenden Fleischanteil, ebenso zurückzuführen sein wie auf die vermehrte Zubereitung der Nahrung vor dem Verzehr.Gehirn- und KörpergrößeDie Entdeckung des »Turkana-Jungen« ermöglichte der Paläoanthropologie viele neue Erkenntnisse, denn es handelt sich um den bisher einzigen Fund eines Homo erectus, bei dem Schädel und Skelett so gut erhalten sind, dass sowohl Hirngröße als auch Körpergröße an demselben Individuum zuverlässig bestimmt werden können. So stellten Alan Walker und seine Mitarbeiter fest, dass der Turkana-Junge, hätte er das Erwachsenenalter erreicht, bei einer Körpergröße von etwa 1,80 Meter etwa 68 Kilogramm schwer geworden wäre. Auch andere Skelettreste des Homo erectus, wie die Fragmente des von Krankheiten gezeichneten Teilskeletts KNM-ER 1808, lassen auf einen recht großen Wuchs schließen. So waren die Männer vermutlich durchschnittlich etwa 1,80 Meter, die Frauen rund 1,60 Meter groß, womit der Körpergrößenunterschied zwischen den Geschlechtern deutlich geringer ausfiel als bei den Australopithecinen oder wahrscheinlich dem frühen Homo und sich bereits an die Verhältnisse beim modernen Menschen annäherte.Hierbei dürfte der große, schlanke Körperbau eine Anpassung an trockenheiße Klimabedingungen sein, wie sie auch heutige Menschen zeigen, die aus den Tropen stammen. Wie Homo erectus sind sie meist hoch gewachsen und schlank und haben verhältnismäßig lange Arme und Beine. Für den Frühmenschen war seine Körpergröße nicht nur in der Nahrungskonkurrenz mit großen Raubtieren vorteilhaft, vielmehr lag ihr eigentlicher Nutzen in der effektiven Temperaturregulation. Denn derartig proportionierte Körper besitzen im Verhältnis zum Körpervolumen eine große Hautoberfläche, über die entsprechend viel Wärme durch Schweißbildung abgegeben werden kann. Umgekehrt vermag demgemäß ein gedrungener Körperbau mit kürzeren Armen und Beinen Wärme besser zu speichern, was in kühleren Klimaten von Bedeutung ist.Möglicherweise könnte eine solche Anpassung an ein kühleres Klima, aber auch eine ungünstigere Ernährungssituation die Ursache für den kleineren Wuchs der asiatischen Vertreter von Homo erectus gewesen sein. Vom Pekingmenschen stehen nur wenig aussagekräftige Skelettreste zur Verfügung, doch deuten verschiedene Schätzungen der Körpergröße aufgrund der Länge des Oberschenkelknochens auf beträchtliche Größenunterschiede gegenüber den afrikanischen Verwandten hin. Danach waren zwei Individuen von Zhoukoudian 1,45 beziehungsweise 1,52 Meter groß.Das gut erhaltene Skelett des Turkana-Jungen gab jedoch nicht nur Aufschluss über das Längenwachstum von Homo erectus. Es ermöglichte darüber hinaus erstmals auch fundierte Rückschlüsse auf die relative Hirngröße dieser Spezies. Dabei folgt aus der Berechnung des Encephalisationsquotienten (EQ) nach Jerison, dass das Gehirn des Turkana-Jungen, für das Alan Walker und seine Mitarbeiter ein Volumen von 910 cm3 ermittelten, in Relation zur Körpergröße etwa 4,5-mal größer war als das im Durchschnitt bei heutigen Säugetieren der Fall ist. Damit lag die relative Hirngröße dieses frühen Homo erectus aber nur geringfügig über dem Wert für Homo habilis (4,3) und war noch weit entfernt von dem EQ des modernen Menschen (7,2). Dementsprechend war sein Gehirn wahrscheinlich kaum leistungsfähiger als das von Homo habilis oder des frühen Homo überhaupt. Einige Forscher nehmen jedoch an, dass das vergrößerte Gehirn des frühen Homo erectus nicht nur eine Folge seiner zunehmenden Körpergröße war, sondern dass auch ein starker Selektionsdruck zur Vergrößerung des Gehirns und Steigerung seiner Leistungsfähigkeit bestand.Hiermit stimmt überein, dass das Hirnvolumen nach der Frühphase des Homo erectus deutlich zunahm. Während die Hirnschädelvolumina der beiden andern gut erhaltenen, zwischen 1,8 und 1,6 Millionen Jahre alten Individuen vom Turkana-See bei 805 beziehungsweise 850 cm3 liegen, erreicht der 1,2 Millionen Jahre alte Schädel mit der Fundnummer O.H. 9 aus der Olduvai-Schlucht bereits eine Kapazität von rund 1070 cm3. Das Volumen der 700 000 bis über eine Million Jahre alten Schädel aus Sangiran reicht bis 1060 cm3 bei einem Durchschnitt von etwa 930 cm3, und der größte der Funde von Zhoukoudian, der etwa 420 000 Jahre alt ist, hat sogar ein Hirnvolumen von 1225 cm3 bei einem Mittel von 1040 cm3. Bei diesen jüngeren Funden kommt es auch zu einem stärkeren Anstieg der relativen Hirngröße. So wurde für den Pekingmenschen ein Encephalisationsquotient von 6,1 errechnet.Die Strukturen des Gehirns von Homo erectus entwickelten sich — soweit das anhand der Abdrücke auf den Schädelinnenseiten beurteilt werden kann — weiter in Richtung des heutigen Menschen. Vergrößerungen in der Region des Broca-Sprachzentrums sowie in andern Gehirnbereichen deuten auf verbesserte Fähigkeiten zu Artikulation, Verständnis und Speicherung von Sprache und andern assoziativen Leistungen hin. Diese spiegeln sich in der Entwicklung der neuen Werkzeugkultur des Acheuléen ebenso wider wie in der Erschließung neuer Nahrungsquellen, der Beherrschung des Feuers und nicht zuletzt in der Fähigkeit, sich in unterschiedlichen Umwelten auszubreiten und an die jeweils herrschenden ökologischen Bedingungen anzupassen.Verlängerte KindheitZu den Besonderheiten des heutigen Menschen gegenüber den andern Säugetieren gehören viele Kennzeichen, die seine Entwicklung und sein Wachstum betreffen. So ist die Zeitspanne vom Beginn der Schwangerschaft bis zum Erreichen des Erwachsenenalters beim Menschen annähernd doppelt so lang wie bei den großen Menschenaffen. Während dieser extrem langen Periode der Abhängigkeit müssen die Eltern viel Zeit und Energie aufwenden, um ihre Nachkommen zu versorgen, zu schützen und zu erziehen.Die Wachstums- und Entwicklungsprozesse unterliegen dabei bei Mensch und Menschenaffen, wie bei jedem andern Säugetier, bestimmten Regeln und Gesetzmäßigkeiten, die sich nicht zuletzt in den Strukturen der Knochen und Zähne widerspiegeln. Man kann daher den Verlauf ihrer Entwicklung auch anhand der fossilen Überreste rekonstruieren.So stellte sich denn bei dem fast vollständig erhaltenen Turkana-Jungen die spannende Frage, ob sein Wachstumsverlauf den Gesetzmäßigkeiten der Menschenaffen unterlag oder bereits denen des Menschen folgte. Einen ersten Anhaltspunkt zu ihrer Beantwortung bietet die Entwicklung des Gebisses, da sich die Reihenfolge unterscheidet, in der die einzelnen Zähne beim Menschen und bei den Menschenaffen durchbrechen. Während bei Ersterem die Eckzähne vor den zweiten hinteren Backenzähnen erscheinen, verläuft die Entwicklung dieser Zähne bei den Menschenaffen umgekehrt. Beim Turkana-Jungen nun waren nicht nur die Eckzähne bereits vorhanden, sondern auch die zweiten hinteren Backenzähne waren gerade in den Mundraum durchgebrochen, als er starb. Somit entsprach seine Zahnentwicklung eher der des Menschen. Der Junge musste hiernach etwa elf Jahre alt gewesen sein, wohingegen ein Schimpanse beim Durchbruch dieser Zähne erst sieben Jahre alt gewesen wäre.Mit diesem Schluss stimmen die Forschungsergebnisse der amerikanischen Anthropologin Holly Smith überein, die sich intensiv mit dem Verlauf der Zahnentwicklung bei Menschenaffen, frühen Hominiden und Menschen beschäftigt und auch das Gebiss des Jungen vom Turkana-See eingehend analysiert hat. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass sich in der Entwicklung von Homo erectus zum ersten Mal die charakteristische Wachstumsverlangsamung des modernen Menschen nachweisen lässt, während die Australopithecinen und auch der frühe Homo noch weitgehend dem Entwicklungsmuster der Menschenaffen folgten.Weitere Hinweise auf den Verlauf der Entwicklung von Homo erectus konnten aus Analysen der gut erhaltenen Beckenpartie des Turkana-Jungen gewonnen werden. So lässt sich aus dieser die Größe des Geburtskanals eines weiblichen Homo erectus ableiten, aus der dann wiederum darauf geschlossen werden kann, wie groß einerseits das Hirnvolumen des Neugeborenen war und wie stark es anderseits nachgeburtlich zunahm. Bei Menschenaffen etwa verdoppelt sich die Geburtsgröße des Gehirns bis zum Erreichen des Erwachsenenalters, während sie beim Menschen auf mehr als das Dreifache ansteigt. Anatomische Erfordernisse, wie etwa die Entwicklung eines stabilen aufrechten Gangs, setzten einer immer weiteren Vergrößerung des Beckenausgangs im Verlauf der Evolution Grenzen, sodass das Wachstum des vergrößerten Gehirns schließlich verstärkt außerhalb des Mutterleibs erfolgen musste.Berechnungen, die anhand des Beckens des Turkana-Skeletts durchgeführt wurden, zeigen, dass ein neugeborener Homo-erectus-Säugling höchstens ein Hirnvolumen von etwa 275 cm3 gehabt haben konnte. Um von diesem Wert auf das Volumen von rund 900 cm3 zu kommen, das der Turkana-Junge als Erwachsener erreicht hätte, hätte sich die Größe des Gehirns nach der Geburt demzufolge mehr als verdreifachen müssen, was dem Wachstumsschema des heutigen Menschen entspräche. Nach den neuen Erkenntnissen über die kindliche Entwicklung von Homo erectus ist davon auszugehen, dass auch bei ihm wesentliche Reifungsprozesse des Gehirns erst nach der Geburt stattfanden. Gleich dem modernen Menschen, dessen Gehirn noch während des gesamten ersten Lebensjahrs so schnell wächst wie vor der Geburt, sodass die »Schwangerschaft« eigentlich 21 Monate dauert, kam demnach vermutlich auch der Nachwuchs dieses Hominiden hilflos und unreifer zur Welt als etwa die Menschenaffen, deren Gehirnwachstum sich nach der Geburt verlangsamt.Die Entstehung der ArtBis in die späten 1980er-Jahre hinein schien die Antwort auf die Frage nach den Ursprüngen des Homo erectus einfach zu sein — nur Homo habilis kam als Ahn in Betracht. Inzwischen wuchsen die Zweifel daran, ob alle diesbezüglichen Funde tatsächlich nur einer Art zuzurechnen seien. Zur Entstehung des Homo erectus ergaben sich damit verschiedene neue Perspektiven.Geht man davon aus, dass alle Funde des frühen Homo nur eine einzige Art umfassen, dann muss man annehmen, dass es sich bei Homo habilis um eine äußerst variable Spezies mit starken Geschlechtsunterschieden handelte. Der Übergang zum Homo erectus, der schon für die Zeit vor 1,8 Millionen Jahren sicher nachgewiesen ist, hätte dann sehr schnell vonstatten gehen müssen: quasi als ein punktualistisches Ereignis, in dem sich ein noch recht primitiver Homo habilis in einen in vieler Hinsicht fortschrittlicheren Homo erectus gewandelt hätte, mit einem menschlichen Körperbau, vergrößertem Gehirn und viel geringerem Geschlechtsdimorphismus. Nach dieser Auffassung hätten sich viele Bereiche der Anatomie binnen kurzer Zeit grundlegend verändern müssen, was ihre Kritiker für nicht sehr wahrscheinlich halten.Immer mehr Forscher denken deshalb, dass die beim frühen Homo beobachtete Variabilität sich nur dadurch erklären lässt, dass in dieser Gruppe zwei verschiedene Arten vertreten sind. Von diesen kann aber nur eine der Vorfahr von Homo erectus gewesen sein. Welche das war, lässt sich gegenwärtig noch nicht klar ausmachen. Geht man von der Gehirngröße aus, dann wäre Homo rudolfensis, wie er anhand der Fossilien identifiziert wurde, die um den Schädel KNM-ER 1470 gruppiert wurden, als möglicher Vorfahr von Homo erectus auszumachen. Gleiches gilt auch dann, wenn diverse Oberschenkel- und Beckenknochen fortschrittlicher Gestalt ebenfalls dieser Art zugerechnet werden. In diesem Fall sind entsprechende Entwicklungstendenzen im ähnlichen Körperbau auszumachen. Der Übergang von einer mittelgroßen Hominidenart zu Homo erectus wäre aus dieser Perspektive langsam vonstatten gegangen, und der Ursprung der gesamten Linie ließe sich bis vor 2,4 Millionen Jahre zurückverfolgen.Abgesehen davon, dass die Zuordnung der oben erwähnten Skelettknochen zu den großhirnigen Homo-rudolfensis-Schädeln keineswegs sicher ist, weisen diese auch Merkmale auf, die nicht in Richtung des späteren Homo erectus deuten. Ein breites Mittelgesicht etwa und große Zähne zeigen vielmehr Parallelen mit den Spezialisierungen der späten Australopithecinen, während umgekehrt die Gruppe der kleineren Schädel um den Fund KNM-ER 1813 in der Morphologie des Gesichts, des Kauapparats und der Zähne Homo erectus so stark ähnelt, dass demzufolge Homo habilis (im Sinne Woods) trotz eines ursprünglicheren Körperbaus als Vorfahre in Betracht zu ziehen wäre.Auch die phylogenetische Einordnung von Homo erectus stößt auf das Problem der bereits mehrfach angesprochenen gegenläufigen Verteilung fortschrittlicher und ursprünglicher Merkmale der beiden frühen Homo-Arten, woraus einige Paläoanthropologen den Schluss zogen, dass möglicherweise keine der beiden Formen als unmittelbarer Vorfahr von Homo erectus gelten könne, zumal sich die chronologische Einordnung einiger früher Homo-Funde mit der von Homo erectus-Fossilien überschneidet, ja Erstere teilweise sogar jünger sind als etwa der Schädel KNM-ER 3733. Stattdessen, so ihre alternative These, könnten vor etwas mehr als zwei Millionen Jahren mehrere Homo-Arten entstanden sein, die jeweils unterschiedliche ökologische Nischen besetzten: Neben Homo rudolfensis und dem kleineren Homo habilis wäre hiernach eine weitere frühe Art möglich — eben der bisher nicht entdeckte direkte Ahn des Homo erectus —, die die meisten der skizzierten Widersprüche auflösen würde. Mit ihr sind aber andere Probleme verbunden, muss doch der Ansatz so lange als hypothetisch gelten, wie er nicht anhand entsprechender Fossilienfunde belegt werden kann.EntwicklungstrendsSo wenig demnach gesicherte Aussagen über die Entstehung des Homo erectus möglich sind, so uneins sind sich die Wissenschaftler darin, wie das Ausmaß der evolutionären Veränderungen während der langen Dauer der Existenz dieser Art einzuschätzen ist. Während einige Forscher — unter ihnen Philip Rightmire — aus der Tatsache, dass bei älteren Homo-erectus-Funden bestimmte Merkmalsausprägungen in derselben charakteristischen Weise kombiniert vorkommen wie bei jüngeren, die Auffassung ableiten, die lange Epoche des Homo erectus sei durch einen weitgehenden evolutionären Stillstand gekennzeichnet gewesen, ergeben sich aus den Analysen anderer Wissenschaftler deutliche Entwicklungstrends. Zu diesen gehört die Vergrößerung des Hirnvolumens, das von etwa 850 cm3 im Fall der frühen Funde vom Turkana-See bis auf 1225 cm3 im Fall der späten Schädel von Zhoukoudian ansteigt. Mit dieser sowohl absoluten als auch relativen Ausdehnung des Gehirns geht vor allem eine Vergrößerung der Scheitelbeine sowie eine Verkleinerung des Kauapparats einher, die insbesondere die Morphologie der hinteren Backenzähne betrifft. Auch der Unterkiefer wurde im Lauf der Zeit verkleinert und immer weniger robust ausgeprägt. Außerdem ist eine zunehmende Reduktion der postorbitalen Einschnürung festzustellen.Solche Entwicklungstrends deuten bereits die Verhältnisse an, wie sie beim nachfolgenden archaischen Homo sapiens vorliegen, was eher für eine langsame, graduelle Entwicklung von Homo erectus zu Homo sapiens als für einen sprunghaften Übergang spricht. Gestützt wird diese Annahme von einem Mosaik aus Homo erectus-artigen und fortschrittlicheren Merkmalen, das viele Funde des archaischen Homo sapiens zeigen. Zugleich meint eine solche These freilich nicht, dass das Entwicklungstempo während der gesamten Existenzdauer von Homo erectus konstant gewesen wäre. Denn einige Merkmale beginnen sich beispielsweise erst beim späten Homo erectus in Richtung des Homo sapiens auszubilden.Obwohl die weit reichenden morphologischen Übereinstimmungen zwischen den Homo erectus-Funden aus Asien und Afrika unbestritten sind, haben einige Forscher Mitte der 1980er-Jahre die Hypothese aufgestellt, nur der asiatische Homo erectus sei als Homo erectus im eigentlichen Sinn zu betrachten und stelle demzufolge eine andere Art dar als der afrikanische. Ihre Interpretation basiert im Wesentlichen auf der Annahme, die asiatischen Funde besäßen bestimmte neu entstandene, abgeleitete Merkmale, die den afrikanischen Fossilien fehlten. Die große Ähnlichkeit der Funde bestehe hiernach lediglich bei ursprünglichen, das heißt von Vorfahren ererbten Merkmalen und sei daher für die Klassifikation unerheblich.Eine solche Bewertung von Merkmalen folgt methodisch dem Ansatz der Kladistik, die die verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen Lebewesen aufgrund ihres Musters aus ursprünglichen und abgeleiteten Merkmalen zu ermitteln sucht. Dieser Vorstellung folgend, schlug Peter Andrews vom Natural History Museum in London 1984 eine Liste von sechs solchen abgeleiteten Merkmalen des asiatischen Homo erectus vor, zu denen er beispielsweise Kielungen auf dem Stirnbein und in der Scheitelgegend, eine dicke Schädelwand sowie eine wulstartige Vorwölbung im hinteren Bereich der Scheitelbeine zählt. Kämen diese abgeleiteten Merkmale ausschließlich beim asiatischen Homo erectus vor, so bedeutete das nach der kladistischen Interpretation eine Abspaltung der asiatischen Linie, die dann allerdings als spezialisierte evolutionäre Sackgasse blind geendet hätte, während aus der weniger spezialisierten afrikanischen Linie die weitere Entwicklung zum Homo sapiens erfolgt wäre.Auch Bernard Wood plädiert für eine Aufteilung in zwei verschiedene Arten, wobei er jedoch die Grenzlinie innerhalb des afrikanischen Materials zieht. Nach seinen Analysen heben sich lediglich die frühen Funde vom Turkana-See, wie zum Beispiel die Schädel KNM-ER 3733 oder KNM-ER 3883 und der Unterkiefer KNM-ER 992, von den asiatischen Funden ab, wobei sie verschiedene Gemeinsamkeiten mit Homo sapiens zeigen. Sie werden von Wood in der frühen Art Homo ergaster zusammengefasst. Andere, spätere afrikanische Funde, wie etwa der Hirnschädel O.H. 9 aus der Olduvai-Schlucht in Tansania, seien dagegen dem asiatischen Homo erectus so ähnlich, dass sie weiterhin zu dieser Art gestellt werden sollten.Die Anwendung des kladistischen Ansatzes auf die Lösung taxonomischer Probleme stößt allerdings bei einer Reihe von Paläoanthropologen auf Kritik. Neben grundsätzlichen evolutionstheoretischen Argumenten — wie etwa dem Hinweis auf das Fehlen eines direkten Zusammenhangs zwischen Artbildung und morphologischer Veränderung — wurde der Einwand erhoben, die Kladisten berücksichtigten bei ihrer Analyse der Funde nicht hinreichend die Variabilität der entsprechenden Merkmale innerhalb der Art. Denn jene seien meistens zu komplex, als dass sie kurzerhand als »vorhanden« oder »nicht vorhanden« diagnostiziert werden könnten. So haben Emma Mbua vom National Museum in Nairobi und Günter Bräuer von der Universität Hamburg gezeigt, dass sowohl die afrikanischen als auch die asiatischen Schädel in der Ausbildung der von Andrews vorgeschlagenen Merkmale stark variieren, ja mehr noch: Ihren Untersuchungen zufolge sind alle vermuteten asiatischen Homo erectus-Eigenmerkmale auch bei afrikanischen Fossilien dieser Art nachweisbar und zumeist sogar beim archaischen Homo sapiens aus Asien und Afrika auszumachen. Das gilt beispielsweise für die Kielung des Stirnbeins, die bei einigen Funden aus Sangiran, darunter der fast vollständig erhaltenen Schädel »Sangiran 17«, nur sehr schwach ausgebildet ist, wohingegen sie beim frühen afrikanischen Homo erectus und bei einigen Vertretern des archaischen Homo sapiens aus Afrika deutlich entwickelt ist. Darüber hinaus bestätigen weiter gehende Analysen der afrikanischen und asiatischen Fossilien von Bräuer die grundlegenden Übereinstimmungen hinsichtlich anderer Schlüsselmerkmale der Gestalt des Schädels, aber auch des Unterkiefers und der Zähne. Bestehende Unterschiede in der Schädelmorphologie stehen demnach vermutlich nicht mit der Artbildung in Zusammenhang, sondern sind vielmehr mit der weiten zeitlichen und geographischen Verbreitung von Homo erectus in Verbindung zu bringen. Daher erscheint eine Aufteilung des Fundmaterials in zwei verschiedene Arten gegenwärtig nicht als gerechtfertigt.Prof. Dr. Günter Bräuer und Jörg Reincke, HamburgWeiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:Homo erectus: Seine KulturGrundlegende Informationen finden Sie unter:Homo erectus: Funde und FundstellenBräuer, Günter: Die Entstehungsgeschichte des Menschen, in: Brockhaus. Die Bibliothek. Grzimeks Enzyklopädie Säugetiere, Band 2, S. 490-520. 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Universal-Lexikon. 2012.